Dr.
Alexander Bissels und Kira Falter
Abweichung
von der gesetzlichen Überlassungshöchstdauer durch den TV LeiZ
– Klappe, die Erste!
Die
gesetzliche Überlassungsdauer von 18 Monaten ist tarifdisponibel,
d.h. diese kann durch einen Tarifvertrag der Einsatzbranche (nicht
hingegen der Zeitarbeit) verlängert oder aber auch verkürzt
werden (§ 1 Abs. 1 b S. 3 AÜG). Nicht tarifgebundene Unternehmen
können die tariflichen Regelung durch eine Betriebsvereinbarung
übernehmen, sprich abschreiben (§ 1 Abs. 1 b S. 4 AÜG). In § 1
Abs. 1 b S. 5, 6 AÜG sind weitere gesetzliche Bestimmungen
vorgesehen, die eine abweichende Überlassungshöchstdauer durch
eine Betriebsvereinbarung zulassen, wenn und soweit dies durch
einen Tarifvertrag zugelassen worden ist. In der Metall- und
Elektrobranche ist in den verschiedenen Tarifgebieten der sog. TV
LeiZ abgeschlossen worden, der die Überlassungshöchstdauer auf
48 Monate verlängert. Bislang dürfte weitergehende Einigkeit
darüber bestanden haben, dass diese Überlassungshöchstdauer
zumindest in Betrieben der Metall- und Elektroindustrie, in denen
die Branchentarifverträge M+E und demgemäß der TV LeiZ qua
Mitgliedschaft im zuständigen M+E-Arbeitgeberverband zur
Anwendung kommen, uneingeschränkt zu beachten ist; dies gilt
ebenfalls für den überlassenen Zeitarbeitnehmer.
Mit
der durch den TV LeiZ verlängerten Überlassungshöchstdauer
musste sich jüngst das LAG Baden- Württemberg befassen, das –
zur Überraschung aller oder zumindest zahlreicher Branchenkenner
– entschieden hat, dass diese nur Geltung beanspruchen kann,
wenn der in dem Kundenbetrieb eingesetzte Zeitarbeitnehmer
Mitglied der IG Metall ist und damit zwischen diesem und dem
Einsatzunternehmen eine kongruente Tarifbindung besteht, die sich
auch auf den TV LeiZ erstreckt (vgl. Urt. v. 02.12.2020 – 4 Sa
16/20; vorgehend und eine abweichende Ansicht vertretend: ArbG
Stuttgart v. 20.02.2020 – 22 Ca 4567/19). Dies war in dem
konkreten Sachverhalt jedoch nicht der Fall. Mangels wirksamer
(tariflicher) Verlängerung der gesetzlichen
Überlassungshöchstdauer sei – so das Gericht – ein
Arbeitsverhältnis zwischen dem Kunden und dem Zeitarbeitnehmer
fingiert worden.
I.
Zusammenfassung der Entscheidung
Der
klagende Mitarbeiter wurde im Rahmen einer
Arbeitnehmerüberlassung durchgehend und ununterbrochen von
31.03.2014 bis 31.05.2019 als Zeitarbeitnehmer an die Beklagte
überlassen, die Mitglied im Verband der Metall- und
Elektroindustrie Baden-Württemberg (Südwestmetall) ist. Der
Kläger ist nicht Mitglied der IG Metall.
Auf
Grundlage des TV LeiZ schloss die Beklagte mit deren
Gesamtbetriebsrat am 20.09.2017 eine Gesamtbetriebsvereinbarung,
in der es u.a. heißt:
"Höchstdauer
der Einsätze von Zeitarbeitnehmern
Der
Einsatz von Zeitarbeitnehmern im direkten Bereich (Produktion)
darf eine Höchstdauer von 36 Monaten nicht überschreiten. Für
Zeitarbeitnehmer, die am 01.04.2017 bereits beschäftigt waren,
zählen für die Überlassungshöchstdauer von 36 Monaten
Einsatzzeiten ab dem 01.04.2017. […]."
Der
Kläger vertrat die Auffassung, wegen Überschreitens der
gesetzlichen Überlassungshöchstdauer von 18 Monaten sei zwischen
ihm und der Beklagten ein Arbeitsverhältnis gem. §§ 9 Abs. 1
Nr. 1 b, 10 Abs. 1 S. 1 AÜG zustande gekommen. Er meint, die
Beklagte könne sich nicht auf die tarifliche Erweiterung der
Überlassungshöchstdauer im TV LeiZ berufen, da die gesetzliche
Ermächtigung in § 1 Abs. 1 b S. 3 AÜG verfassungswidrig sei. Im
Übrigen vertrat der Kläger die Auffassung, bei den auf der
Grundlage von § 1 Abs. 1 b S. 3 AÜG abzuschließenden
Tarifverträgen, also auch beim TV LeiZ, handele es sich nicht um
Betriebs-, sondern um Inhaltsnormen, die direkt auf die
Direktionsrechtsbefugnisse der Personaldienstleister gegenüber
den Zeitarbeitnehmern einwirken sollen. Da der Kläger aber nicht
Mitglied der IG Metall und somit nicht tarifgebunden sei, wirke
diese tarifliche Regelung für ihn nicht unmittelbar und zwingend.
Das
ArbG Stuttgart hat die Klage abgewiesen. Diese Entscheidung wurde
vom LAG Baden-Württemberg "kassiert" und im Ergebnis
aufgehoben. Der Arbeitsvertrag zwischen dem Kläger und dem
Personaldienstleister, der über eine
Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis verfüge, sei gem. § 9 Abs. 1
Nr. 1 b AÜG nach Ablauf des 30.09.2018 unwirksam geworden; gem.
§ 10 Abs. 1 S. 1 AÜG sei ein Arbeitsverhältnis zu der Beklagten
zustande gekommen.
Unstreitig
sei der Kläger ab dem 31.03.2014 an die Beklagte überlassen
worden und dort – ausgehend vom 01.04.20217 – auf Grundlage
der Übergangsvorschrift in § 19 Abs. 2 AÜG länger als 18
aufeinanderfolgende Monate, nämlich bis zum 31.05.2019, tätig
gewesen.
Die
Überlassungshöchstdauer könne jedoch gem. § 1 Abs. 1 b S. 3
AÜG in einem Tarifvertrag der Einsatzbranche abweichend von § 1
Abs. 1 b S. 1 AÜG festgelegt werden. § 1 Abs. 1 b S. 3 AÜG
differenziere nicht danach, welches der beiden Verbote gem. § 1
Abs. 1 b S. 1 AÜG tariflich verändert werden dürfe (über 18
Monate hinaus als Verleiher "überlassen" gem. HS. 1
oder als Entleiher "tätig werden lassen" nach HS. 2).
Die erneute Wiederholung des Begriffs
„Überlassungshöchstdauer“, der nicht zwischen den
Alternativen „überlassen“ und „tätig werden lassen“
differenziere, könnte nahelegen, dass ausschließlich eine
Abweichung von § 1 Abs. 1 b S. 1, HS. 1 AÜG gemeint sein
könnte. Andere Stimmen meinten dagegen, die Tarifdispositivität
erstrecke sich nur auf das an den Kunden gerichtete Einsatzverbot
(vgl. Ulber, § 1 AÜG Rn. 283a). Beide Ansichten widersprächen
aber erkennbar dem Willen des Gesetzgebers, den dieser mit der
Einführung des § 1 Abs. 1 b AÜG mit Wirkung ab dem 01.04.2017
verfolge. Vielmehr habe dieser in beiden Rechtsverhältnissen der
Dreiecksbeziehung eine Veränderung der Grenze von 18 Monaten
gestatten wollen. Der Gesetzgeber habe das System der
Arbeitnehmerüberlassung auf der einen Seite bewusst so gestaltet,
dass streng zwischen dem Arbeitsverhältnis zwischen dem
Personaldienstleister und dem Zeitarbeitnehmer und den
Überlassungsvertrag zwischen dem Personaldienstleister und dem
Kunden zu unterscheiden sei (vgl. BT-Drucksache 17/4804, S. 7).
Auf der anderen Seite habe er mit der Neuregelung des § 1 Abs. 1
b S. 3 AÜG ermöglichen wollen, dass das Instrument der
Arbeitnehmerüberlassung auch weiterhin flexibel und
bedarfsgerecht eingesetzt werden könne. Zu diesem Zweck solle
durch Tarifverträge der Einsatzbranche ermöglicht werden, die
Überlassungshöchstdauer von 18 Monaten zu verkürzen oder
auszudehnen (BT-Drucksache 18/9232, S. 20). Diese mit der
gesetzlichen Ermächtigung beabsichtigte Flexibilisierung werde
nur erreicht, wenn zum einen eine Abweichung von § 1 Abs. 1 b S.
1, HS. 1 AÜG erlaubt werde, weil nur dadurch die Rechtsfolge nach
§§ 9 Abs. 1 Nr.1 b, 10 Abs. 1 AÜG verhindert werden könne. Zum
anderen müsse, um eine solche flexibel geänderte
Überlassungsdauer realisieren zu können, auch auf der Ebene des
Einsatzbetriebes eine Regelung gefunden werden, die es dem Kunden
überhaupt ermögliche, von der veränderten Einsatzmöglichkeit
Gebrauch zu machen und den Zeitarbeitnehmer entsprechend tätig
werden zu lassen. § 1 Abs. 1 b S. 3 AÜG lasse somit tarifliche
Abweichungen bezogen auf beide Vertragsverhältnisse der
Dreiecksbeziehung zu.
Eröffne
§ 1 Abs. 1 b S. 3 AÜG aber tarifliche Regelungsmöglichkeiten
für beide Ebenen des bei der Arbeitnehmerüberlassung
regelmäßig anzutreffenden Dreiecksverhältnisses, bedürfe es
einer Klärung, ob eine hierauf beruhende tarifliche Bestimmung
Betriebs- oder Inhaltsnormcharakter habe. Dies sei für jede der
beiden Ebenen getrennt zu untersuchen. Die Frage sei deshalb
relevant, weil bei einer Charakterisierung der entsprechenden
tariflichen Regelungen als Inhaltsnorm für eine unmittelbare und
zwingende Wirkung eine beiderseitige Tarifbindung erforderlich
wäre (§§ 3 Abs.1, 4 Abs. 1 S. 1 TVG), bei einer Betriebsnorm
dagegen die alleinige Tarifbindung des Arbeitgebers ausreichen
würde (§§ 3 Abs. 2, 4 Abs. 1 S. 2 TVG).
Soweit
unter Ausnutzung der Ermächtigung in § 1 Abs. 1 b S. 3 AÜG
Bestimmungen über das Einsatzverhältnis getroffen, also
Abweichungen zu § 1 Abs. 1 b S. 1, HS. 2 AÜG festgelegt würden,
handele es sich nach ganz überwiegender Meinung um Betriebsnormen
(vgl. Schüren/ Hamann, § 1 AÜG Rn. 355; Ulrici, § 1 AÜG Rn.
99; Ulber, RdA 2018, 52). Dies decke sich mit der Zwecksetzung des
Gesetzgebers, nach der die Überlassungshöchstdauer der
dauerhaften Substitution von Stammbeschäftigten durch
Zeitarbeitnehmer entgegenwirken solle (BT-Drucksache 18/9232, S.
20). Es gehe also um die Grenzziehung, ab wann diese
Substitutionsgefahr gesehen werde. Diese Grenze könne nur
einheitlich unter Einbeziehung aller Zeitarbeitnehmer gezogen
werden – unabhängig davon, ob diese tarifgebunden seien oder
nicht. Es gehe nur um das Verhältnis zwischen dem Arbeitgeber und
der Belegschaft als Kollektiv und um dessen Zusammensetzung, bei
der dem Arbeitgeber Grenzen gesetzt würden.
Regele
ein Tarifvertrag dagegen auch, wie lange ein Arbeitnehmer vom
Personaldienstleister überlassen werden dürfe (Abweichung von §
1 Abs. 1 b S. 1, HS. 1 AÜG), handele es sich um eine (negative)
(...)
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