Dr.
Alexander Bissels und Dr. Jonas Singraven
Zur
inhaltlichen Konkretisierung der Anforderungen an das
Konzernprivileg nach § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG durch das BAG
Eine
Arbeitnehmerüberlassung ist grundsätzlich gem. § 1 Abs. 1 S. 1
AÜG erlaubnispflichtig. In § 1 Abs. 3 AÜG werden gesetzliche
Ausnahmen definiert, bei deren Vorliegen die Vorschriften des AÜG
– zumindest zu einem weit überwiegenden Teil – für nicht
anwendbar erklärt werden, u.a. die Erlaubnispflicht (§ 1 Abs. 1
AÜG), die Überlassungshöchstdauer (§ 1 Abs. 1 S. 4, Abs. 1b
AÜG) und die Anwendung des Gleichstellungsgrundsatzes (§ 8 AÜG).
Die in § 1 Abs. 3 AÜG genannten Ausformungen des Einsatzes von
Fremdpersonal werden damit (im Vergleich zu einer
"klassischen" Arbeitnehmerüberlassung) in rechtlicher
Hinsicht begünstigt. Dies gilt auch für das sog. Konzernprivileg
gem. § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG.
Die
Wirksamkeit dieser gesetzlichen Bestimmung ist umstritten.
Gleiches gilt für die Auslegung der einzelnen
Tatbestandsmerkmale. Vor diesem Hintergrund wurde die nachfolgend
besprochene Entscheidung des BAG, in der sich der 9. Senat
erstmals vertiefend mit § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG auseinandersetzen
musste, mit Spannung erwartet (Urt. v. 12.11.2024 – 9 AZR
13/24).
I.
Zusammenfassung des Urteils
Der
klagende Arbeitnehmer war vom 14.07.2008 bis zum 30.04.2020 bei
der X-GmbH angestellt. Seine vertraglich geschuldete Tätigkeit
verrichtete er auf dem Werksgelände der beklagten YGmbH. Die
Y-GmbH und die XGmbH waren während der Beschäftigungsdauer des
Klägers konzernverbundene Unternehmen. Die Umstände, unter denen
der Kläger seine Arbeitsleistung erbrachte, waren streitig.
Der
Arbeitnehmer machte geltend, zwischen ihm und der Y-GmbH sei gem.
§§ 10 Abs. 1, 9 Abs. 1 AÜG ein Arbeitsverhältnis zustande
gekommen, da er seit Anbeginn seiner Beschäftigung bei der Y-GmbH
unter Verletzung der Vorgaben des AÜG als Zeitarbeitnehmer und
nicht im Rahmen eines Werk-/Dienstvertrages eingesetzt worden sei.
Erst-
und zweitinstanzlich drang der Kläger mit dessen
Feststellungsklage gegen die Y-GmbH nicht durch, dass ein
Arbeitsverhältnis mit dieser bestehe. Dessen Revision war
hingegen begründet. Das LAG Niedersachsen habe den
Feststellungsantrag – so das BAG – nicht mit der gegebenen
Begründung abweisen dürfen. Die Annahme des Gerichts, ein
Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien sei bereits deshalb nicht
gem. §§ 10 Abs. 1 S. 1, 9 Abs. 1 AÜG zustande gekommen, weil
diese Normen aufgrund der Regelung in § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG keine
Anwendung fänden, halte einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht
stand.
Zwischen
dem Entleiher und dem Zeitarbeitnehmer komme ein
Arbeitsverhältnis zustande, wenn der Arbeitsvertrag zwischen dem
Verleiher und dem Zeitarbeitnehmer aus einem der in § 9 Abs. 1
AÜG aufgeführten Gründe unwirksam sei und keine
Festhaltenserklärung abgegeben werde. Der Unwirksamkeitsgrund
nach § 9 Abs. 1 Nr. 1a AÜG sei erfüllt, wenn die
Arbeitnehmerüberlassung entgegen § 1 Abs. 1 S. 5, 6 AÜG nicht
ausdrücklich als solche bezeichnet und die Person des
Zeitarbeitnehmers nicht konkretisiert worden sei (vorliegend nicht
beachtet).
Nach
§ 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG sei das AÜG – mit Ausnahme einiger
hiesig nicht in Betracht kommender Bestimmungen – auf die
Arbeitnehmerüberlassung zwischen Konzernunternehmen nach § 18
AktG nicht anzuwenden, wenn der Arbeitnehmer nicht zum Zweck der
Überlassung eingestellt und beschäftigt werde. Bei einer
Arbeitnehmerüberlassung im Rahmen des sog. Konzernprivilegs
griffen somit die Rechtsfolgen des §§ 10 Abs. 1, 9 Abs. 1 AÜG
nicht ein.
Das
LAG Niedersachsen nahm an, dass zwischen den Parteien kein
Arbeitsverhältnis nach §§ 10 Abs. 1, 9 Abs. 1 Nr. 1a AÜG
begründet worden sei. Es habe offen gelassen, ob der Kläger in
den Betrieb der Beklagten eingegliedert und gegenüber deren
Arbeitnehmern weisungsgebunden gewesen sei. Selbst wenn dies der
Fall sei, könne sich die Beklagte auf das Konzernprivileg nach §
1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG berufen, so dass die Vorschriften des AÜG
keine Anwendung fänden. Die Regelung sei ihrem eindeutigen
Wortverständnis nach nur dann unanwendbar, wenn der Arbeitnehmer
nicht zum Zweck der Überlassung eingestellt und nicht zu diesem
Zweck beschäftigt worden sei. Vorliegend sei der Kläger bei der
XGmbH schon nicht zum Zweck der Überlassung eingestellt worden.
Das Konzernprivileg in der vom LAG Niedersachsen vorgenommenen
Auslegung gelte unabhängig davon, ob es mit Unionsrecht im
Einklang stehe.
In
diesem Zusammenhang widerspricht das BAG: zwar könne der Wortlaut
von § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG („eingestellt und beschäftigt“)
auf den ersten Blick dafür angeführt werden, dass das
Konzernprivileg nur dann nicht zur Anwendung gelange, wenn sowohl
die Einstellung als auch die Beschäftigung zum Zweck der
Überlassung erfolgten. Die Verwendung der Konjunktion „und“
zwinge jedoch nicht zu der Annahme, dass das Konzernprivileg nur
dann ausgeschlossen sei, wenn beide Merkmale kumulativ vorlägen.
Die Konjunktion „und“ könne ebenfalls eine Aufzählung oder
Aneinanderreihung ausdrücken. Sie bedinge nicht immer und
zwingend ein kumulatives Verständnis. Sinn und Zweck sowie
Systematik des § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG und der erklärte Wille des
Gesetzgebers sprächen vielmehr dafür, das Wort „und“ als „und/oder“
auszulegen.
Nach
dem Referentenentwurf vom 02.09.2010 sollte das Konzernprivileg
zunächst ausdrücklich die konzerninterne Überlassung von
Arbeitnehmern erfassen, die „nicht zum Zwecke der Überlassung
eingestellt“ worden seien. Für den Ausschluss des
Konzernprivilegs sei es nach dem Wortlaut nur darauf angekommen,
dass der innerhalb des Konzerns überlassene Arbeitnehmer von
vornherein zum Zweck der Überlassung eingestellt worden sei. Der
Gesetzgeber habe den Wortlaut von § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG sodann im
weiteren Gesetzgebungsverfahren um die Wörter „und beschäftigt“
ergänzt. Damit habe er zum Ausdruck gebracht, dass das
Konzernprivileg nicht nur bei einer Überlassung von Arbeitnehmern
innerhalb des Konzerns ausgeschlossen sei, die von vornherein „zum
Zweck der Beschäftigung eingestellt“ worden seien, sondern auch
dann, wenn sich ihr späterer Einsatz in einem Konzernunternehmen
als Beschäftigung „zum Zweck der Überlassung“ erweise.
Innerhalb des § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG sei somit zwischen einer im
Grundsatz zulässigen Einstellung mit späterer Überlassung und
einer unzulässigen Einstellung bzw. Beschäftigung zum Zweck der
Überlassung zu unterscheiden.
Die
Ergänzung des negativen Tatbestandsmerkmals im Gesetzentwurf der
Bundesregierung vom 17.02. 2011 untermauere den Willen des
Gesetzgebers, das Konzernprivileg bei einer zu
Überlassungszwecken dienenden Beschäftigung auszuschließen.
Dadurch sollte explizit sichergestellt werden, dass es nicht
allein auf den bei Abschluss des Arbeitsvertrags festgelegten
Leistungsinhalt, sondern zudem darauf ankomme, dass der
Arbeitnehmer später nicht zum Zwecke der Überlassung
beschäftigt werde (BT-Drucks. 17/4804, S. 8). Die negative
Tatbestandsvoraussetzung des Konzernprivilegs solle nicht dadurch
umgangen werden können, dass der Arbeitsvertrag nach der
Einstellung geändert und der Arbeitnehmer zum Zweck der
Überlassung als Zeitarbeitnehmer beschäftigt werde. Dieser
gesetzgeberischen Grundentscheidung sei bei der Auslegung durch
die Gerichte Rechnung zu tragen. Der Anwendung des
Konzernprivilegs stehe es somit entgegen, wenn der Arbeitnehmer
zum Zweck der Überlassung eingestellt oder beschäftigt werde.
Diesem
Auslegungsergebnis entspreche es, dass nach der Systematik des
AÜG regelmäßig nicht die vertragliche, sondern die
tatsächliche Überlassung die beabsichtigten Rechtsfolgen
auslöse. Der Anwendungsbereich des AÜG sei unabhängig davon
eröffnet, ob der Arbeitnehmer zum Zweck der Überlassung an
Dritte eingestellt werde. Dadurch solle die praktische Wirksamkeit
des durch das AÜG vermittelten Schutzes gewährleistet werden.
Eine den Vorschriften des AÜG unterfallende Überlassung liege
nach der Legaldefinition des § 1 Abs. 1 S. 2 AÜG vor, wenn der
Arbeitnehmer in die Arbeitsorganisation des Entleihers
eingegliedert sei und dessen Weisungen unterliege. Der Grundsatz
der Gleichstellung (§ 8 Abs. 1 S. 1 AÜG) knüpfe ebenso an die
„Zeit der Überlassung“ an wie § 9 Abs. 1 Nr. 1, 1a und 1b
AÜG, der voraussetze, dass der Arbeitnehmer einem Dritten zur
Arbeitsleistung tatsächlich überlassen werde. Diese Systematik
lege es nahe, dass das Konzernprivileg auch im Falle einer „Umwidmung“
eines Arbeitsverhältnisses durch eine rein tatsächliche
Beschäftigung zum Zweck der Überlassung ausgeschlossen sein
solle.
§
1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG verbleibe bei diesem „alternativen“
Verständnis der Norm ein eigener Anwendungsbereich. Nicht jede
Einstellung, in deren Zusammenhang eine Überlassung an ein
Konzernunternehmen gestattet sei, erfolge ohne Weiteres „zum
Zweck der Überlassung“. Ebensowenig schließe jede
weisungsgebundene Beschäftigung bei gleichzeitiger Eingliederung
in ein konzernverbundenes (...)
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