Dr.
Alexander Bissels und Dr. Jonas Singraven
Grenzüberschreitende
illegale Arbeitnehmerüberlassung mit A1-Bescheinigung: (K)Ein
Freifahrtschein?!
Grenzüberschreitend
aus dem Aus- im Inland durchgeführte Dienst- bzw. Werkleistungen
haben den Vorteil, dass diese außerhalb des regulatorischen
Anwendungsbereichs des AÜG und damit in der Regel
kostengünstiger angeboten bzw. erbracht werden können; dies gilt
insbesondere, wenn aufgrund von vorab eingeholten
A1-Bescheinigungen festgestellt wird, dass nicht das deutsche,
sondern weiterhin das ausländische Sozialversicherungsrecht für
die im Rahmen des (vorgeblichen) Dienst- bzw. Werkvertrages von
dem Auftragnehmer bzw. Werkunternehmen eingesetzten
(ausländischen) Arbeitnehmer zur Anwendung kommt.
Was
ist aber, wenn sich der Dienst- bzw. Werkvertrag als eine illegale
(sprich ohne eine Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis oder
zumindest verdeckt durchgeführte) Arbeitnehmerüberlassung
herausstellt, weil die betreffenden Arbeitnehmer – gegen die
getroffenen vertraglichen Abreden – bei dem Auftraggeber bzw.
Besteller weisungsgebunden in dessen Betriebsstrukturen
eingegliedert werden? Schützt dann tatsächlich die
A1-Bescheinigung, insbesondere vor der Nachzahlung von
Sozialversicherungsbeträgen? Nach Ansicht des SG Magdeburg soll
dies der Fall sein (Urt. v. 28.11.2023 – S 46 BA 45/21). In dem
konkreten Fall stritten die Beteiligten über die Nachforderung
von Beiträgen zur Sozialversicherung für litauische Lkw-Fahrer,
die mit einer A1-Bescheingiung in Deutschland tätig geworden
sind.
I.
Zusammenfassung der Entscheidung
Gegen
die Klägerin ermittelte das Hauptzollamt und die
Staatsanwaltschaft Magdeburg. Im Rahmen dieses Verfahrens
übersandte das Hauptzollamt Magdeburg der beklagten DRV
Unterlagen zur Prüfung. Diese kam aufgrund ihrer Prüfung zu dem
Ergebnis, dass u.a. die für die Klägerin tätigen litauische
Kraftfahrer im Prüfungszeitraum bei dieser
sozialversicherungspflichtig beschäftigt gewesen seien.
Im
Nachgang zu den Ermittlungen führte die Beklagten selbst bei der
Klägerin eine Prüfung durch und forderte mit Bescheid vom
16.09.2020 von dieser für die Zeit vom 01.04.2014 bis zum
30.10.2017 Sozialversicherungsbeiträge i.H.v. insgesamt
281.871,59 EUR (Beitragsforderung i.H.v. 205.620,59 EUR sowie
Säumniszuschläge i.H.v. 76.251,00 EUR), u.a. für die
litauischen Kraftfahrer.
Hintergrund
der Nachforderung sei, dass die Klägerin in dem
streitgegenständlichen Zeitraum mehrere Personen abhängig
beschäftigt habe. Die Auswertung der Ermittlungen des
Hauptzollamtes Magdeburg habe ergeben, dass u.a. die von der
Klägerin eingesetzten litauischen Kraftfahrer als Arbeitnehmer
beschäftigt worden seien. Diese seien bei der Klägerin im Rahmen
einer (faktischen) Arbeitnehmerüberlassung nach dem AÜG
eingesetzt worden.
Entsprechend
der zwischen der Klägerin und einem anderen Unternehmen
geschlossenen Rahmenvereinbarung sollten die litauischen
Arbeitnehmer die Frachtaufträge auf den Fahrzeugen der Klägerin
ausführen. Die Klägerin habe auch die Betriebskosten der
Fahrzeuge, z.B. Treibstoff, Mautgebühren und Reparaturkosten,
bezahlt.
Die
Nutzung der Fahrzeuge der Klägerin spreche für eine
Eingliederung der litauischen Arbeitnehmer in die
Betriebsorganisation der Klägerin. Entgegen der in der
Rahmenvereinbarung getroffenen Regelung habe die Klägerin
tatsächlich Weisungen an die litauischen Arbeitskräfte erteilt.
Ferner verbleibe das gesamte unternehmerische Risiko im
Transportbereich bei der Klägerin. Auch die Buchführung spreche
für das Vorliegen einer Arbeitnehmerüberlassung, da die
Klägerin die entsprechenden Kosten als Personalkosten verbucht
habe. Aufgrund der fehlenden Erlaubnis zur
Arbeitnehmerüberlassung ergebe sich zwischen der Klägerin und
den Arbeitnehmern ein Arbeitsverhältnis kraft Gesetzes mit allen
sozialversicherungsrechtlichen Konsequenzen. Aus den Ermittlungen
habe sich zudem ergeben, dass den litauischen Arbeitnehmern nicht
der im jeweiligen Zeitpunkt geltende Mindestlohn gezahlt worden
sei. Die Berechnung der nachträglich zu erhebenden Beiträge
erfolge nach den tatsächlichen Arbeitszeiten, die den
Fahrtenschreibern entnommen worden seien, sowie dem jeweiligen
Mindestlohn. Schließlich seien Säumniszuschläge zu erheben
gewesen, da die Klägerin bzw. ihre Abrechnungsstelle Kenntnis von
der Zahlungspflicht besessen habe.
Nach
der Zurückweisung des von der Klägerin erhobenen Widerspruchs
und der Ablehnung des Antrags auf Aussetzung der sofortigen
Vollziehung des Bescheides wurde Klage erhoben. Die Klägerin
führt insbesondere an, dass sämtliche litauischen Lkw-Fahrer im
Besitz der sog. A1-Bescheinigung seien. Damit werde die
Zugehörigkeit zur litauischen Sozialversicherung bestätigt. Eine
Beitragspflicht zur deutschen Sozialversicherung bestehe insoweit
nicht.
Mit
dieser Argumentation drang die Klägerin beim SG Magdeburg durch.
Die Klage war erfolgreich; der Bescheid der Beklagten vom
16.09.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
27.07.2021 wurde aufgehoben.
Hinsichtlich
der litauischen Kraftfahrer ergebe sich – so das SG Magdeburg
– zwar anhand der vorliegenden Umstände, dass zwischen den
litauischen Kraftfahrern und der Klägerin im streitigen Zeitraum,
für den die Beklagte Sozialversicherungsbeiträge nachfordere,
ein Arbeitsverhältnis nach § 10 Abs. 1 S. 1 AÜG bestehe. Danach
gelte ein solches zwischen dem Entleiher und dem zur
Arbeitsleistung überlassenen Arbeitnehmer als zustande gekommen,
wenn der Vertrag zwischen dem Verleiher und dem Arbeitnehmer
unwirksam ist. Dies sei nach § 9 Nr. 1 AÜG der Fall, wenn der
Verleiher nicht über die nach dem AÜG zur
Arbeitnehmerüberlassung erforderliche Erlaubnis – wie hier –
verfüge.
Die
vorliegenden Umstände sprächen für eine
Arbeitnehmerüberlassung durch die X. Anhand der vorliegenden
Unterlagen sei nicht erkennbar, dass es sich bei dieser um eine
eigenständige (Unter-)Frachtführerin handeln solle. Ein
maßgebliches Kriterium für die Einordnung als selbständiges
Transportunternehmen sei, dass dieses selbst über die dafür
erforderlichen Fahrzeuge verfüge. Angesichts des geringfügigen
Wertes der Sachanlagen im Vergleich zu den üblichen Werten der
erforderlichen Fahrzeuge offenbare sich, dass die X nicht über
die entsprechenden Fahrzeuge verfüge. Da die Klägerin die
eingesetzten Kraftfahrer als Personalkosten und nicht als
Fremdleistung verbucht habe, werde deutlich, dass der Klägerin
bewusst gewesen sei, dass sie die litauischen Kraftfahrer als
eigenes Personal eingesetzt habe. Schließlich sei auch kein
wirtschaftliches Risiko übertragen worden, da sämtliche
Betriebsmittel durch die Klägerin bereitgestellt, gewartet und
unterhalten worden seien.
Eine
andere Sichtweise ergebe sich nicht aus geschlossenen
Rahmenvereinbarung. Es komme für die Bewertung auf die
tatsächlich gelebten Verhältnisse an. Aus den Ermittlungen des
Hauptzollamtes lasse sich erkennen, dass die Klägerin
tatsächlich Weisungen an die litauischen Kraftfahrer – unter
Einschaltung von Übermittlern bzw. Übersetzern – erteilt habe.
Hiervon ausgehend sei die Annahme einer Arbeitnehmerüberlassung
– auch im Lichte des europäischen Rechts – nicht zu
beanstanden.
Auf
die entgeltliche sozialversicherungsrechtliche Beschäftigung der
litauischen Lkw-Fahrer finde insoweit grundsätzlich das deutsche
Sozialversicherungsrecht Anwendung. Dies folge aus dem in § 3 Nr.
1 SGB IV niedergelegten Territorialprinzip.
Vorliegend
ergebe sich eine Zuordnung zu einem anderen als dem deutschen
Sozialleistungssystem allerdings aus den A1-Bescheinigungen für
die litauischen Lkw-Fahrer. Aufgrund der vorgelegten Unterlagen
des zuständigen Trägers in Litauen, nach denen das eigene System
der sozialen Sicherheit auf die litauischen Lkw-Fahrer während
der Dauer der Überlassung nach Deutschland anwendbar bleibe,
finde eine Versicherungspflicht und Beitragserhebung zur deutschen
Sozialversicherung nicht statt.
Entgegen
der Ansicht der Beklagte ergebe sich eine abweichende Bewertung
nicht aus der Entscheidung des BSG vom 29.06.2016 (Az. B 12 R 8/14
R, Rn 27). Anders als im dort entschiedenen Fall lägen hier
entsprechende A1-Bescheinigungen vor. Diese seien bindend, solange
sie nicht widerrufen oder aufgehoben würden, selbst wenn sie
rechtswidrig erstellt bzw. erteilt worden seien.
II.
Bewertung
Die
nachfolgenden Leitsätze des SG Magdeburg fassen das Ergebnis des
Urteils plastisch zusammen, bedürfen jedoch – wie die
Entscheidung selbst – einer kritischen Bewertung.
In
diesen heißt es wörtlich wie folgt:
„Nach
§ 10 Abs. 1 S. 1 HS. 1 AÜG gilt ein Arbeitsverhältnis zwischen
dem Entleiher und dem zur Arbeitsleistung überlassenen
Arbeitnehmer als zustande gekommen, wenn der Vertrag zwischen dem
Verleiher und dem Arbeitnehmer unwirksam ist. Nach § 9
(...)
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