Dr.
Alexander Bissels und Kira Falter
Europarechtlichen
Anforderungen an die Abbedingung des gesetzlichen
Gleichstellungsgrundsatzes – nun ist (erst einmal) der EuGH am
Zug
Am
16.12.2020 musste sich der 5. Senat des BAG in drei
Revisionsverfahren mit dem gesetzlichen Gleichstellungsgrundsatz
bzw. mit dessen Abbedingung durch die Anwendung eines Tarifwerks
der Zeitarbeit (konkret: iGZ/DGB) befassen. Im Instanzenzug wurden
von den klagenden Zeitarbeitnehmern insbesondere europarechtliche
Erwägungen angeführt, dass der Gleichstellungsgrundsatz nicht
wirksam ausgeschlossen werden konnte – mit der Folge, dass der
jeweilige Personaldienstleister verpflichtet gewesen sein soll, ab
dem ersten Tag der Überlassung equal pay zu zahlen. Dabei lehnten
sich die Kläger an die Argumente der sog. Däubler-Kampagne an.
In zwei Verfahren hat das BAG in der Sache inhaltlich
durchentschieden. Eine Verweisung an den EuGH war nicht
erforderlich, da es auf die Auslegung von Unionsrecht nicht
angekommen ist (Urt. v. 16.12.2020 – 5 AZR 22/19, 5 AZR 131/19).
Ein Rechtsstreit fand hingegen den Weg nach Luxemburg. Der 5.
Senat hat diesen dem EuGH vorlegt, um aus europarechtlicher Sicht
klären zu lassen, unter welchen (rechtlichen) Voraussetzungen der
Ausschluss des Gleichstellungsgrundsatzes – unter
Berücksichtigung der Vorgaben der Zeitarbeitsrichtlinie (RL
2008/104/EG; nachfolgend auch: "Richtlinie" oder "RL")
– durch die Anwendung der Tarifverträge der Zeitarbeit möglich
bzw. wirksam ist (BAG. v. 16.12.2020 – 5 AZR 143/19 (A);
vorgehend: ArbG Würzburg v. 08.05.2018 – 2 Ca 1248/17; LAG v.
Nürnberg v. 07.03.2019 – 5 Sa 230/18)
I.
Zusammenfassung der Entscheidung
Die
Parteien streiten über eine weitere Vergütung unter dem
Gesichtspunkt der Gleichstellung der Zeitarbeitnehmer in Bezug auf
das Arbeitsentgelt (sog. equal pay) für die Monate Januar bis
April 2017.
In
diesem Zeitraum war die Klägerin aufgrund eines befristeten
Arbeitsvertrags bei dem beklagten Personaldienstleister als
Zeitarbeitnehmerin beschäftigt. Dabei war sie einem Unternehmen
des Einzelhandels als Kommissioniererin überlassen und erhielt
zuletzt einen Stundenlohn von 9,23 EUR brutto.
Die
Klägerin ist Mitglied der ver.di, die Beklagte gehört dem iGZ
an. Dieser hat mit mehreren Gewerkschaften des DGB, u.a. mit
ver.di, Tarifverträge geschlossen, die eine Abweichung von dem in
§ 8 Abs. 1 AÜG (§ 10 Abs. 4 S. 1 AÜG a.F.) verankerten
Grundsatz der Gleichstellung vorsehen, insbesondere auch eine
geringere Vergütung als diejenige, die vergleichbare
Stammarbeitnehmer im Kundenbetrieb erhalten.
Mit
der Klage verlangt die Klägerin von der Beklagten die Zahlung von
insgesamt 1.296,72 EUR brutto als Differenz zwischen der
erhaltenen Vergütung und derjenigen, die vergleichbaren
Stammarbeitnehmern des Kunden gezahlt worden sein soll. Die
Klägerin ist der Auffassung, die Tariföffnung im AÜG sowie die
auf ihr Arbeitsverhältnis Anwendung findenden Tarifverträge
seien mit Art. 5 der Richtlinie nicht vereinbar. Vergleichbare
Stammarbeitnehmer würden nach dem Lohntarifvertrag für die
gewerblichen Arbeitnehmer im Einzelhandel in Bayern vergütet und
hätten im Streitzeitraum einen Stundenlohn von 13,64 EUR brutto
erhalten. Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und meint,
aufgrund der beiderseitigen Tarifgebundenheit schulde sie nur die
für Zeitarbeitnehmer vorgesehene tarifliche Vergütung.
Das
ArbG Würzburg hat die Klage abgewiesen. Die von der Klägerin
eingelegte Berufung war vor dem LAG Nürnberg erfolglos.
Das
BAG führt zunächst aus, dass das AÜG den Personaldienstleister
grundsätzlich verpflichte, dem Zeitarbeitnehmer das gleiche
Arbeitsentgelt zu zahlen, das der Kunde vergleichbaren
Stammmitarbeitern gewähre (sog. equal pay). Von diesem Gebot der
Gleichstellung erlaube das AÜG eine Abweichung durch
Tarifvertrag, soweit dieser nicht die in einer Rechtsverordnung
nach § 3a Abs. 2 AÜG festgesetzten Mindeststundenentgelte
unterschreite. Dies habe zur Folge, dass der Personaldienstleister
dem Zeitarbeitnehmer lediglich das tariflich vorgesehene
Arbeitsentgelt gewähren müsse.
Davon
ausgehend könnte die Klägerin für die Dauer ihrer Überlassung
an den Kunden keine weitere Vergütung unter dem Gesichtspunkt des
equal pay beanspruchen. Ihre Klage wäre unbegründet und ihre
Revision zurückzuweisen. Nach deutschem Tarifrecht seien die
Klägerin und die Beklagte kraft ihrer Mitgliedschaft in den
tarifschließenden Verbänden an die von diesen für die
Zeitarbeitsbranche geschlossenen Tarifverträge mit unmittelbarer
und zwingender Wirkung gebunden. Diese vom
Gleichstellungsgrundsatz abweichenden Tarifverträge seien –
zumindest soweit sie auf Arbeitnehmerseite von ver.di geschlossen
worden seien – wirksam. Die Parteien der auf das
Arbeitsverhältnis Anwendung findenden Tarifverträge für die
Zeitarbeitsbranche – nämlich der iGZ und die in den jeweiligen
Tarifverträgen namentlich aufgeführten Mitgliedsgewerkschaften
des DGB, darunter ver.di – seien tariffähig. Diese stehe
zwischen den Parteien außer Streit. Der iGZ und ver.di seien für
die Zeitarbeitsbranche auch tarifzuständig. Ob alle weiteren an
den Tarifabschlüssen beteiligten Gewerkschaften ebenfalls für
die Zeitarbeitsbranche tarifzuständig bzw. im maßgeblichen
Zeitpunkt gewesen seien, sei nicht entscheidungserheblich. Bei den
fraglichen Tarifverträgen handele es sich nämlich um sog.
mehrgliedrige Tarifverträge im engeren Sinne, bei denen lediglich
mehrere – in der Regel gleichlautende – Tarifverträge in
einer Urkunde zusammengefasst seien. Im Streitfall sei es deshalb
ausreichend, dass die für das Zeitarbeitsverhältnis der Parteien
einschlägigen Tarifverträge zwischen dem iGZ und ver.di wirksam
seien, da ver.di jedenfalls seit ihrer Satzungsänderung 2009 für
die gewerbliche Arbeitnehmerüberlassung tarifzuständig sei.
Soweit einer anderen am mehrgliedrigen Tarifvertrag im engeren
Sinne beteiligten Gewerkschaft die Tarifzuständigkeit fehlen
sollte, bedinge dies nur die Unwirksamkeit des von ihr
abgeschlossenen Tarifvertrags, habe aber keine Auswirkungen auf
die zwischen den anderen Tarifvertragsparteien geschlossenen
Tarifverträge.
Anders
wäre es nur, wenn die auf das Zeitarbeitsverhältnis der Parteien
Anwendung findenden Tarifverträge als sog. Einheitstarifverträge
einzuordnen wären. In diesem Fall müsste jede am Tarifvertrag
beteiligte Gewerkschaft für die Zeitarbeitsbranche
tarifzuständig sein. Es wäre mit dem Wesen der Tarifautonomie
nicht vereinbar, wenn eine nicht tarifzuständige Gewerkschaft an
der Verhandlung und dem Abschluss eines Tarifvertrags mitwirken
und diesen möglicherweise wesentlich (mit-)gestalten könnte.
Für die Annahme, die Tarifvertragsparteien hätten
Einheitstarifverträge schließen wollen, fehle es jedoch an
hinreichend deutlichen Anhaltspunkten. Deshalb verbleibe es bei
der Auslegungsregel, dass die auf einer Seite beteiligten
Tarifvertragsparteien sich grundsätzlich ihrer jeweils autonomen
Tarifmacht nicht begeben, sondern voneinander unabhängige,
eigenständige Tarifverträge schließen wollten, von denen sie
sich ohne Rücksicht auf die übrigen Beteiligten auch wieder
lösen könnten (vgl. BAG v. 29.06.2004 - 1 AZR 143/03; BAG v.
08.11.2006 - 4 AZR 590/05; BAG v. 07.05.2008 – 4 AZR 229/07).
Eine Tarifkollision im Betrieb der Beklagten aufgrund der
mehrgliedrigen Tarifverträge im engeren Sinne habe nicht
bestanden, weil alle in Betracht kommenden Tarifverträge von
Anfang an und jedenfalls bis zum Ende des Streitzeitraums
inhaltsgleich gewesen seien (§ 4a Abs. 2 S. 3 TVG).
Die
vom Gleichstellungsgrundsatz abweichenden Tarifverträge hätten
nicht die in einer Rechtsverordnung nach § 3a Abs. 2 AÜG
festgesetzten Mindeststundenentgelte unterschritten. Im
Streitzeitraum existierten solche nicht. Die am 31.12.2016 außer
Kraft getretene 2. LohnUGAÜV habe zuletzt für die
"alten" Bundesländer ein Mindeststundenentgelt von 9,00
EUR brutto vorgesehen. Die am 01.06.2017 in Kraft getretene 3.
LohnUGAÜV habe ab diesem Zeitpunkt in den "alten"
Bundesländern ein Mindeststundenentgelt von 9,23 EUG brutto
festgelegt. Beide Grenzen habe der für das Zeitarbeitsverhältnis
und den Streitzeitraum maßgebliche Entgelttarifvertrag nicht
unterschritten.
Wäre
hingegen die nationale Regelung der Abweichung vom
Gleichstellungsgrundsatz durch Tarifvertrag mit Unionsrecht nicht
vereinbar, könnte der Klägerin für die Dauer ihrer Überlassung
an den Kunden – soweit ein möglicher Anspruch für die Monate
Januar und Februar 2017 nicht nach einer arbeitsvertraglichen
Ausschlussfristenregelung verfallen sei – eine weitere
Vergütung unter dem Gesichtspunkt des equal pay zustehen mit der
Folge, dass ihre Klage zumindest teilweise begründet und ihrer
Revision insoweit stattzugeben wäre. Fehle es an einer wirksamen
Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz, wäre die Beklagte
verpflichtet, der Klägerin für die Dauer der Überlassung an den
Kunde das Arbeitsentgelt zu gewähren, das ein vergleichbarer
Stammarbeitnehmer des Kunden im Streitzeitraum erhalten
habe. (...)
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